Texte

Über Sandra Bergemanns Wirklichkeitserfahrung

von Christoph Tannert (Künstlerischer Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien Berlin), 2017

Ihre durch Kamerabewegungen während der Langzeitbelichtung geprägten Fotoserien deuteten ihr gewachsenes mediales Interesse bereits an. Die Entscheidung, mit dem Medium Video und an Video-Objekten zu arbeiten, rückte für Sandra Bergemann die Frage nach dem Abbild bzw. der Abbildbarkeit von Wirklichkeit noch deutlicher in den Vordergrund. Während das Foto das Geschehen vom Faktor Zeit trennt, bringt das Video Zeit und Bewegung wieder ins Spiel. Dabei vermeidet die Künstlerin jegliche Erzählperspektiven und auch spektakuläre Einstellungen oder Effekte. In „Das Esistsogewesen oder Esistnichtsogewesen“ ist es beispielsweise lediglich die Draufsicht auf ein paar Fundobjekte am Strand, die den Blick des Publikums konditionieren. Sandra Bergemann versucht unser Interesse zu gewinnen mit ihrer auf Strukturen verknappten Sicht auf einen gewissen Status des Seins, des Materials, grauer Sand, Muscheln, Stiefel – zur Anschauung gebracht durch eine computergenerierte Realität des Digitalen, wie sie die Videokamera ermöglicht.

Fotografie hat nie nur bewahrenden Charakter gehabt, sondern immer auch Gefühle, Wunschträume und unser ganzes konsumorientiertes Lebensumfeld bebildert und transportiert. Und natürlich ist auch „Das Esistsogewesen“ in der Videopräsentation nicht wirklich wirklich. Aber genau deshalb gelingt es Bergemann mit ihrer klugen und subtilen ästhetischen Praxis, dass wir uns neu Gedanken machen über Wirklichkeitserfahrung in Korrelation zur Form-Inhalt-Thematik.

Auch wenn die Künstlerin das Narrative in ihren Videos ausschließt, so gibt es doch Momente, in denen etwas Geheimnisvolles, vielleicht sogar Märchenhaftes in Erscheinung tritt. „Der Monolith“ verschränkt durch seine Gestaltgebung das Abweisende mit dem Anziehenden. Erst wird man überrascht von der autoritären Formierung eines aufragenden schwarzen Blocks, tritt man näher, zieht es einen hinein wie in einen verzauberten Brunnen. Dabei ist dieses Werk nicht bildreich, eher karg. Handelt das Ganze von einer Erinnerung aus der Kinderzeit? Das Video-Objekt baut eine eigenartige Spannung auf. Dem Publikum wird mit dem Blick in den „Monolithen“ suggeriert, es könnte, wie im Märchen, übernatürlicher Kräfte und Gestalten gewahr werden. Tatsächlich wird es aber überrascht von einer medienreflexiven Bildsprache, die nicht Gleichnis, sondern ein Spiel mit Strukturen ist. Die, die immer wissen, was gespielt wird, gehen hier leer aus.

In „Deepwater Horizon oder Das Chaos der Zeichen“ kombiniert Sandra Bergemann diverse nach oben hin offene, kastenförmige Objekte aus Holz, die mit Epoxidharz gefüllt sind und in die einzelne Baumscheiben sowie ein Videodisplay eingelegt wurden. Diverse Bedeutungen stellen sich her durch die materialsprachlichen Qualität des Sinns, der mal geknüpft ist an Natürliches, Landschaftliches, Dynamisches, Positives und dann wieder an die Kräfte des Starren bis Negativen. Es liegt auf der Hand, dass die brutalen Umweltkatastrophen der letzten Jahrzehnte erinnert werden. Die Künstlerin schwört aber nicht auf die Logik des Eindeutigen, sondern bevorzugt offene Schlüsse, sodass es möglich wird, das Verhältnis von Welt, Politik und Kunst in Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen zu denken.

Letztendlich breitet sich dahinter ein Gefühl der Unsicherheit aus, das, angelegt in der fotografischen Serie „Von Momenten“, weitergeführt wird im Video „Von der Unmöglichkeit, zu schwimmen“, das die Ausweglosigkeit aus unserer zusammengeballten und irritierend beschleunigten Zeit thematisiert. Die Künstlerin wartet mit ästhetisch berückenden Bildern auf, die von einem kompromisslos brutalen Sound unterfüttert werden.

Die Abbildung von Verzweiflung und Unmut berührt sich so mit den notwendigen emotionalen Schüben des Ermutigenden.

Durch das Fenster zu anderen HorizontenVom Lichteinfall zum Bild

von Prof. Dr. Martin Roman Deppner (ehemaliger Dekan des Fachbereichs Gestaltung, Fachhochschule Bielefeld ), 2017

Sandra Bergemann hat sich zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn vor allem als Porträtfotografin einen Namen gemacht. Ihre Serie „Gesichter der DEFA“, die zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer Filmstars der DDR ins Bild setzte, wurde in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Mit der dafür gewählten Schwarzweißfotografie als einem Stilmittel des Rückblicks erscheint die Fotografie als Medium, das die Erkennbarkeit mit einer die Zeiten überbrückenden Eigenschaft verknüpft. Damit sind zwei der zentralen Merkmale dokumentarischer Fotografie aufgerufen, Zeugenschaft und Erinnerungspur an ein vorübergegangenes Ereignis. Diese Parameter sind zugleich jene Stilmittel, die die Fotografin mit ihren darauffolgenden Arbeiten hinterfragt und mit variantenreichen Eingriffen in das Medium und dessen apparative Gegebenheiten verändert.

Mit der Bildserie zum Fenstermotiv („Durch das Fenster“) sowie mit den Bildfolgen, die sich in Landschaftsaufnahmen dem Horizont als Gegenstand des Eindenkens in den fotografischen Fokus widmen und diesen sogar in einem anderen Format zum Leitthema erheben („Horizonte“), hat Sandra Bergemann die Orientierung angegeben, mit welcher sie die Blicke lenkt, herausfordert und zur Neuausrichtung animiert. Seit der Renaissance gilt das Fenster als Metapher vom Bild als einem offenen Fenster zur Welt (fenestra aperta). Das Fenstermotiv ist mit einer an die Zentralperspektive gebundenen Illusionsdarstellung verknüpft, die die räumlich erscheinende Welt auf die zweidimensionale Ebene des Bildträgers transferiert. Vergleichbares hat die Horizontlinie, ins Bild versetzt, zum Ziel. Sie teilt das Unten und Oben, lenkt die Wahrnehmung ins Zentrum der Sehstrahlen, gibt dem Augenpunkt Halt, suggeriert Tiefenraum auf dem flächigen Grund der Bildwirklichkeit.

Beide Akzente, das Fenstermotiv wie die Horizontlinie, erinnern somit an Strukturen, die die fotografischen Resultate der Lichtführungen Sandra Bergemanns ebenso aufrufen wie überschreiten. Ihre Konstellationen überführen die räumliche Wirkung des Fensters zur Welt in Lichtreflexe und Farbbrechungen, lenken das Sehen auf Nuancen der dem Licht-Bild eigenen Erzeugnisse jenseits einer reflektierten Außenwelt. Diese Licht-Bilder orientieren sich an Bildfindungen, die nicht nur die Zentralperspektive der Renaissance überwinden, sondern auch die dem fotografischen Objektiv eigene Fokussierung, die dessen Wirkmächtigkeit zum Erben der klassischen Bildkunst hat werden lassen: zum Kameraauge der Aufzeichnung eines Räumlichkeit vorspiegelnden Seheindrucks. Dieser abbildenden Eigenschaft hat die Fotografie einerseits ihren Siegeszug als Medium der Zeugenschaft zu verdanken, andererseits wurde durch diese Aufwertung übersehen, dass die mechanisch erzeugte Wiedergabe des Sehfeldes über weitaus mehr ästhetische Wirkungspotentiale verfügt.

Die Facetten der Fotokunst Sandra Bergemanns lassen erkennen welche visuell erlebbaren Ereignisse aus dem Lichteinfall in die Blackbox der Kamera erwachsen können. Als Niederschlag auf dem lichtempfindlichen Papier sowie mittels chemischer Reaktionen und – nicht zuletzt – durch den steuernden Eingriff, öffnen sich in ihren Arbeiten Formvarianten von intensiver Bildlichkeit, die das Bild als eigenständiges Medium präsent macht. Daran hat die digitale Bildaufzeichnung wenig geändert, die ihrerseits die Wandlung der Lichtimpulse in formbaren Pixelstaub betreibt und den Fotografen zwischen Wiedergabe und Strukturbildlichkeit die Entscheidung überlässt.

Der Prozess von den Resultaten eines abbildenden Apparates zu strukturbildlichen Artefakten aus Lichtspuren erzeugter Gebilde hat die gesamte Entwicklung der Fotografie begleitet, hat sie ebenso zum Allerweltsmedium wie zum Kunstwerk werden lassen. Im Werk Sandra Bergemanns ist die Polarität zwischen dem wiedergebenden Reflex der Kamera und dem Umgang mit medienspezifischen Eigenschaften des fotografischen Aktes als Weg einer Suche nach der Wirkkraft eines autonomen Bildes und als Weg zu einem eigenständigen Werk nachzuvollziehen.

Den sich der möglichst authentischen Wiedergabe von Persönlichkeiten der DEFA verpflichtenden Porträts einer frühen Werkphase stehen die abstrakten Fotogramme neueren Datums jedoch nicht einfach gegenüber. Bereits in den Fotografien der Stars einer vorübergegangenen Epoche der Filmkunst, den „Gesichtern der DEFA“, den Rückblicken auf Karrieren in einem nicht mehr existierenden Staat, der die Differenz von Volksnähe und Starkult wie zu einem Paradox zu vereinigen suchte, werden Strukturen sichtbar, die über eine repräsentative Wiedergabe hinausgehen. Ambivalente Posen zwischen porenscharfer Nähe und eigensinnigen, zuweilen entrückten Physiognomien evozieren Distanz zu einer entschwundenen Zeit und erzeugen zugleich Bilder, die Erinnerungsspuren in die Gegenwart zu übertragen verstehen. Ins Schwarz-Weiß einer auf Farbe verzichtenden Bildgebung übertragen wandeln die medialen Persönlichkeiten mit Vergangenheit in ein Gegenüber ohne wirkliche Präsenz, sie fallen aus der Zeit und werden abstrakt. Die in das Dokumentarische eingeflochtenen Inszenierungen stoßen das fotografische Fenster auf, erweitern den Blick, der auf diese Weise über das Beschreibende und Informative hinausgeführt wird.

Das Ziel, das Bildhafte gegenüber dem Illustrativen aufzuwerten führt das fotografische Auge der Künstlerin zu Bildfindungen, die sich über die Lichtmodulationen des Mediums formen. In ihren anderen, das Herauspräparieren von visuellen Spuren betreibenden Arbeiten („Aus der Tiefe“), überblenden die Auf- und Abstufungen des Lichteinfalls die außerbildlich existierenden Konfigurationen. Entstanden sind Einsichten in Strukturen die dadurch sichtbar werden, dass der Gegenstand isoliert, fokussiert und optisch vergrößert wird um durch Nahaufnahmen ebenso austauschbare wie beziehungslose Muster zur Erscheinung zu bringen. Bereits in Sandra Bergemanns Aufnahmen von Bergmassiven, Wolken und bewegten Gewässern korrespondieren die Lichtreflexe der in das Blickfeld gerückten Motive mit der Lichtumwandlung des fotografischen Vorgangs. Die mit „Von der Welt im Inneren“ bezeichnete Serie lässt den Blick auf die Naturmotive ebenso als Reflexe und Einspiegelungen ins Innere der Kamera wie als Licht-Schattenzustände des Gemüts erscheinen. In den Aufnahmen von Steingebirgen („Gegen das Sehen“) will es scheinen, als überforme die Belichtung einer in der Entwicklung angehaltenen Fotografie die Naturgewalt, obwohl es sich um Resultate einer digitalen Bildbearbeitung handelt. Diese werden in ein monochromes Weiß getaucht und unter anderem zu einem großformatigen Triptychon aufgeteilt. Den separierten Bildern wird sukzessiv das Motiv entzogen indem sich der erweiterte fotografische Vorgang Effekte der Malkunst aneignet und damit das Auge mit der Überwältigungsstruktur eines sich bildenden Farbfeldes konfrontiert.

Die Spur des Lichts, als eines der wesentlichen Merkmale des fotografischen Vorgangs, führt in den Bildfolgen „Aus der Tiefe“ und „Verloren“ sowie „Der Versuch auf dem Rücken des Teufels zu reiten“ zu reinen Lichtmodulationen, die die Brechungen des Lichts in Farbe verfolgen.

Die Serie „FP 100“ vergegenständlicht die Einblendungen zu gestischen Verläufen, die sich in den Polaroidaufnahmen mit der Bezeichnung „Suprematis“ in monochrome Farbfelder verwandeln und wie von hinten beleuchtet innerbildlich die Auflösung von Grenzen der aufgerufenen Formen betreiben. Diese Aufnahmen markieren das Bild vor dem Bild, ein vor der Erscheinung stehendes Bild, das wie ein Kamerareflex ohne optisches Äquivalent anmutet, als Verzicht auf den Blick durch Objektiv, Linse und Brennweite. Mit den Fotogrammen erschafft Sandra Bergemann Bildräume, die mithilfe von Überblendungen und wechselnden Lichtrichtungen Gegenstände in Schatten verwandeln und schließlich in abstrakte Strukturen überführen. Damit schließt die Künstlerin einerseits auf zu neueren Bildfindungen wie sie Thomas Ruff unter Zuhilfenahme digitaler Bildbearbeitungsprogrammen erzeugt hat, andererseits ruft sie die ersten abstrakten Fotografien in Erinnerung, die von Alvin Langdon Coburn Anfang des 20. Jahrhunderts als Vortographs vorgestellt wurden: Bild gewordene kristalline Brechungen, erzeugt mittels eines vor das Objektiv gesetzten Prismas aus zerborstenem Glas. Fotogramme sind dagegen Erzeugnisse des Lichts und dessen Wirkung auf lichtempfindlichem Papier, ohne Einsatz der Kamera. Bildoperationen dieser Art gehen auf Moholy-Nagy und Man Ray zurück. Aktuell sind Ergebnisse abstrakter Fotografie – ob als kristalline Brechung der äußeren Realität oder als Resultat von Lichtexperimenten in der Dunkelkammer oder als Ergebnis des Umgangs mit elektronischen Werkzeugen – vor allem dadurch, weil sie unter den neuen Vorzeichen eines Bewusstseins über die generativen Eigenschaften des Fotografierens, Einsichten in das fotografische Medium vermitteln. Damit wird betont, dass es sich beim Einsatz fotografischer Parameter nicht in erster Linie um ein abbildendes Verfahren, sondern um eine erzeugendes Verfahren handelt. Diese „Erzeugungsfotografie … bildet nicht mehr nur Gegenstände ab, … sondern sie macht auch Abstrakta zu ihrem Gegenstand: Gedankenbilder, Theoreme, Modelle, Vorstellungen. Sie vermittelt nicht nur einen äußeren Standpunkt, sondern einen inneren Standpunkt: ein Innenbild des bildnerischen Systems Mensch/Apparat – und sie repräsentiert auf hoher symbolischer Ebene den Prozess der Auseinandersetzung beider.“[1]

Mit dieser Erkenntnis wird eine Re-Lektüre des fotografischen Bildes notwendig an der sich auch das Werk Sandra Bergemanns beteiligt. Die darin einsehbare Erforschung des Mediums folgt dessen inneren Notwendigkeiten und betreibt zugleich eine Bildsuche, die mit den ästhetischen Eigenschaften des fotografischen Sehens die Grenzen der visuellen Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit auslotet und damit den Prozess des Sehens in die Bilderzeugung einbezieht. Das betrifft die Eigenschaft der Wiedergabe des gesehenen und festgehaltenen Ereignisses, dessen Inszenierung sowie die Steigerung durch Ausschnitt und Vergrößerung, das betrifft die mikroskopische Nahsicht wie die Überblendung, die Lichtsteuerung ebenso wie das Hantieren in der Dunkelkammer des fotografischen Labors und nicht zuletzt das Eindenken in die Vorgänge der Kamera selbst. Im Durchschreiten der fotografischen Möglichkeiten, wie sie in der Fotografiegeschichte einsehbar sind, erkennt Sandra Bergemann ein Potential zur Neuausrichtung, indem unterschiedliche Ausprägungen der Lichtbildästhetik in einen Prozess der Sichtbarkeit überführt werden. Dieser geht über das Momentane, das Augenblickliche hinaus indem die Gewalt des fotografischen Augenblicks, als dessen Bild bestimmende Eigenschaft, in andere Formen überführt wird. Ziel ist es, die fokussierende Festlegung Räumlichkeit versprechender Blickführung und damit das zur Wahrnehmung eines Trugbildes sich steigernde Sehen zu überwinden, eine Bildstrategie, die gegen die Funktionsweise der Kamera gerichtet ist. Damit bricht Sandra Bergemann zu neuen Formen der Visualisierung von konzeptionellen Bildentwürfen auf. Der ästhetische Augenblick, als eine Struktur bildende Spur des fotografischen Aktes transformiert zusammen mit den anderen, das fotografische Bild auszeichnenden Parametern, zu Elementen anderer Medien. Die Kennzeichen des durch Licht erzeugten, den erlebten Augenblick stillstellenden Bildes werden einerseits eingefügt in Bewegtbildern als Teil von Video-Installationen, andererseits gewinnen sie plastische Gestalt, geformt zu Objekten und damit zu einer Dreidimensionalität, die das Fenster zur Welt einst versprach.

[1]

                  [1] Gottfried Jäger, Abstrakte, konkrete und generative Fotografie. Gesammelte Schriften, München 2016, S. 156.

Eröffnungsrede zur 60. Ausstellung von Sandra Bergemann im Ozeaneum Stralsund

von Dorina Kasten (Kunsthistorikerin, Kuratorin am STRALSUND-MUSEUM), 2017

Liebe Sandra, liebe Freundinnen und Freunde der Kunst Sandra Bergemanns!

Diese Stadt am Meer hat viele Talente hervorgebracht, darunter viele Bildende Künstler und unter diesen viele Frauen. Selbst im 19. Jahrhundert, als es für junge Mädchen nicht einfach war, Traditionen und Konventionen zu durchbrechen, wagten es einige, nach Berlin zu gehen, um dort Kunst zu studieren. Erinnern möchte ich an Antonie Biel, geboren 1830 und Elisabeth Büchsel, geboren 1867.

Einen wesentlich unbeschwerteren Weg als diese beiden beschritt Sandra Bergemann, als sie sich 1999 aufmachte, um am Lette-Verein in Berlin Fotodesign zu studieren. Für ihre Abschlussarbeit wählte sie eine große Herausforderung. Selbst erst am Anfang ihrer Karriere porträtierte sie gestandene DEFA-Schauspielerinnen und Schauspieler. Sie arbeitete jedoch von Anfang an so professionell und mit großem Einfühlungsvermögen, dass dieses Experiment gelang und ihr weitere Türen öffnete. Das lag nicht nur an der guten Ausbildung bei Roger Melis, sondern auch und vor allem an ihrer besonderen Ausstrahlung, dem unbedingten Willen, Menschen darzustellen, ihr Wesen zu erkennen, in ihre Seele zu schauen. Auch damit steht sie in guter Tradition mit anderen Stralsunder Künstlerinnen, wie Hedwig Freese, Gisela Peschke und eben Büchsel.

2010, Jahre später, wandte Sandra Bergemann sich der abstrakten  künstlerischen Fotografie zu. Ich sehe das gar nicht als Schnitt an. Mir scheint es eine logische Folge in ihrer Entwicklung zu sein. Erst der Mensch, jetzt die Landschaft. Mensch und Landschaft – das waren immer die großen Themen der Künstlerinnen und Künstler von der Ostseeküste. Auch Sandra zieht es nach langer Abwesenheit wieder zum Wasser, diesem Ur-Element, aus dem alles Leben kommt.  Wann immer es die Zeit erlaubt, die Stimmung gebietet, die Sehnsucht erfordert, fährt sie an die Küste. Rügen, Kühlungsborn und Warnemünde sind ihre Ziele. Und so nüchtern wie der Begriff Fotografie auch klingen mag, beschreibt er einen langen Schaffensprozess, bis das fertige Werk vorliegt. Die Wasseroberfläche ist wie ein Spiegel. Wenn wir hineinschauen, spiegelt sie unser Gesicht. Und nicht nur das. Sie spiegelt Licht und Schatten, Wut und Trauer, Kampf und Ruhe im Zusammenspiel mit Sonne und Mond, Wind und Wellen.

Am Anfang steht also die Beobachtung. Wie rollen die Wellen? Wie bläst der Wind? Wie fällt das Licht? Einer Surferin gleich wartet die Künstlerin auf den perfekten Moment, ihre Arbeit zu beginnen. Und dann wird belichtet. Jetzt ist es vielversprechend. Und sie ist allein, denn der Schaffensprozess ist immer ein einsamer. Geräusche, Gespräche und die Anwesenheit anderer Menschen blendet sie aus. Elektrisiert und gebannt hält sie das Bild fest, sekundenlang, mit allen Zufälligkeiten und Bewegungen, bewussten und unbewussten. Später, im Atelier, arbeitet sie behutsam nach, um den ursprünglichen Charakter des Fotos zu erhalten. Was die lange Belichtungszeit angeht, so folgt Sandra Bergemann den Anfängen der Fotografie. Damals wurde daran gearbeitet, sie zu verkürzen, heute wird damit experimentiert, um bestimmte Ergebnisse zu erhalten. Auch Unschärfe ist gewollt und drückt eine Stimmung aus, die sonst nur der Pinsel erreicht.

Sandra hat eine ihrer abstrakten Serien VON MOMENTEN  genannt. Der Titel ist philosophisch und absolut angemessen, für das, was hier zu sehen ist. Der Begriff suggeriert, dass es sich um eine Erzählung handelt. Die Künstlerin erzählt uns von Momenten der Einsamkeit, Momenten der Reue, der Liebe, der Sehnsucht, der Traurigkeit und von Glücksmomenten. Der Moment gilt hier als kleinste Zeiteinheit des Lebens. Längst vergangen, holt sie ihn zurück und hält ihn fest.

Und wir, was empfinden wir beim Betrachten der Werke aus diesen vier Serien (STURM UND DRANG, VON MOMENTEN,  DAS LETZTE LICHT und FP-100)? Eindringlich sind diese Bilder. Wir können uns nicht dem Sog entziehen, der von ihnen ausgeht. Zum einen sind wir Zeugen des Kampfes der Elemente. In STURM UND DRANG z.B. ist es ja nicht das Wasser allein, sondern der Wind, die Kraft der Wellen, die Strahlen des Mondes und der Sonne, die das Meer zu dem machen, was es ist und wie wir Menschen es empfinden:  Mal bedrohlich, mal still, mal tödlich, mal Leben spendend. Und gleichzeitig ist es Symbol für die Kämpfe in unserem Inneren: Der Hass ringt zuweilen die Liebe nieder, Jähzorn trifft auf Sanftmut.

Zum anderen werfen die Bilder Fragen auf: DAS LETZTE LICHT? Was hat es damit auf sich? Wir fürchten, dass es ganz wegbleibt, dass es zum Rand hin so grell wird, dass es sich auflöst und im Nichts verschwindet. Das wäre das Ende. Oder ist es nur das Tageslicht, das morgen wieder kommt? Und diese Geschichte VON MOMENTEN. Wird sie je zu Ende sein? Dürfen wir auf ein bisschen Romantik hoffen, um den schrecklichen Tagesnachrichten zu entfliehen oder wird sie brutal weitererzählt, so brutal wie das Leben eben manchmal ist?

Dagegen hört sich der Titel der Serie FP-100 fast an wie ein Begriff aus einem Science Fiction Film. Dabei handelt es sich nur um das raffinierte Foto eines mit Farben manipulierten alten Polaroidfilms. Entstanden sind dadurch atemberaubende Werke, bei deren Betrachtung wir uns vorkommen wie Kapitän Nemo an Bord der Nautilus, die Meerestiefe durch eine Scheibe beobachtend.

Kurz, es gibt in dieser Ausstellung viel zu entdecken. Und weil wir im Ozeaneum sind, einem Natur-Museum, möchte ich mit einem Zitat der eingangs erwähnten Elisabeth Büchsel enden, die sich als Künstlerin ihr Leben lang infrage stellte:

„Und immer steht man als Lernender vor der Natur…“

Ich finde, dass dieser Satz uns alle miteinander verbindet, die Künstlerin Sandra Bergemann und ihr Publikum.

 

Bewegte Fotografie –
von Moment zu Moment

von Susanne Papenfuß (Direktorin Caspar-David-Friedrich-Zentrum, Greifswald), 2013

Die Landschaft und das Porträt sind zwei zentrale Themen und Motivreservoirs für Sandra Bergemanns Arbeit. Nach Porträtserien zu den Schauspielerstars der ehemaligen DDR und den deutschen Fußballweltmeisterinnen beschäftigt sich Bergemann zunehmend mit Landschaftsausschnitten als fotografisches Motiv. Stille, ruhige Plätze, offen oder von Bäumen umschattet. Oder zittrig hüpfende Wellen. Sandra Bergemann ist in Stralsund geboren, das Meer ist Teil dieser Landschaft. Die anderen Orte findet sie auf Reisen durch das Land, sei es nun die idyllische Burgenromantik des Rheins oder mitteldeutsche Waldinterieurs um ihre Wahlheimat Berlin.

Eine Auseinandersetzung mit Themen der norddeutschen Romantik liegt angesichts ihrer Herkunft nahe. Die Serie „an caspar“ gibt schon im Namen einen Hinweis auf ihre Bezugnahme auf den Landschaftsmaler Caspar David Friedrich, der als Landschaftskomponist verschiedene zeichnerische Naturstudien in seinen Gemälden neu miteinander kombinierte. Seine Landschaften sind auch immer „Seelenlandschaften“, sprechen ein Gefühl an, lösen ein Gefühl aus. Wie auch Friedrich seinerzeit bearbeitet Bergemann die vorgefundene Landschaft. Durch die digitale Bildbearbeitung verschwinden in den Mittelformatbildern nicht nur die Spuren einer immens zugenommenen Urbanisierung. Auch die die Komposition des Bildes störenden Elemente werden retuschiert. Die Bilder werden nachträglich umkomponiert. Helligkeiten und Farbwerte werden gemäß eines Eindrucks, eines Erinnerungsgehaltes, eines verloren gegangenen und hier wieder aufgeschnappten Gefühls verändert. So entstehen dunkle unheimliche Märchenwaldgegenden, Ausblicke in freundliche, warme gelbgrüne Lichtungen und Bilder von eisigen nebelichten Wassergestaden. Ihre Bilder wirken seltsam kompakt und entvölkert, kaum lenken Details den Blick von der strengen Linearität der Bilder ab.

In ihrer Serie digitaler Fotografien mit dem Titel VON MOMENTEN thematisiert Bergemann das Meer in seiner Spannbreite zwischen Ruhepol und Unruheherd. Die bewegte Kamera im Zusammenspiel mit der stetigen Bewegung des Meeres liefern ihr reichhaltiges Repertoire an Motiven. Bergemann entscheidet sich dafür, beide Bewegungen zu kombinieren und bildbestimmend wirken zu lassen. Die damit einhergehende Unschärfe wird so zu einem essentiellen Bestandteil der visuellen Wiedergabe. Sie verzichtet hier auf das, was in den Anfängen der Fotografie als ihre größte Errungenschaft galt. Aber auch schon Alexander von Humboldt berichtete 1839 nach der Besichtigung der ersten Fotografien von Louis Jaques Mandé Daguerres von einem Bild des Mondes, dessen Ränder unscharf waren, weil Daguerre nicht schnell genug der Bewegung des Mondes folgen konnte (siehe Wolfgang Baier „Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie“, VEB Fotokinoverlag, Halle, 1964, S. 116). Sandra Bergemann versucht zum einen ihre Bewegung mit der des Meeres zu harmonisieren und die Wellen in die eine oder andere Richtung bewusst zu verstärken. Zum anderen agiert sie der Wellenbewegung klar entgegen. Das Meer wirkt hier höchstgradig zerstäubt, die Wellen durcheinandergewirbelt, zerfranst und aufgebauscht.

In der Regel gilt uns das Meer trotz seiner steten Bewegtheit, bis zu einer höchstens leichten Brise als Ort des Innehaltens. Die ruhige See lässt uns ruhig werden. Lässt uns sinnen und besinnen. Der Blick schweift von den zuweilen aufreibenden Kleinigkeiten des Alltags in die Ferne. Die gleichförmige Bewegung der Wellen fängt uns ein, beruhigt. Und gleichzeitig erweckt das Meer mit seinen ununterbrochen dahinplätschernden Wellen den Eindruck von etwas zeitlos Erscheinendem. Gerade heute wirkt es in dieser Form als ein Entschleunigungsmoment.
Wie Paul Valéry es formulierte:

„Mehr als einsam am Ufer des Meers
Wie die Welle geb ich mich hin
Eintöniger Verwandlung
Von Wasser in Wasser
Von mir in mich“
(Paul Valéry, „Windstriche“, 1969)

Das im Sturm tanzende Meer lässt uns zurückschrecken, wühlt uns auf, wie es selbst aufgewühlt ist. Spätestens seit Ende des 18. Jh. gilt das von heftigen Winden aufgepeitschte Meer als Spiegel der eigenen Unruhe und Rastlosigkeit oder auch eines emotionalen Ausbruches im Sinne eines Affektes in seiner aufbrausenden Stärke und mit der sich anschließenden sprichwörtlichen Ruhe nach dem Sturm. Es hat damit auch den Charakter von etwas Unbeherrschbarem und Unberechenbarem. Jahrhunderte lang war dies der Grund für eine besondere Distanz- und Respekthaltung vor dem Meer.

Als Motiv in der bildenden Kunst funktioniert das Meer zumeist eher als Referenzgröße für Dinge, die sich auf dem Meer befinden oder geschehen. Dafür wurde wiederum dann jeweils eine Bezugsgröße angegeben, wie die Küste oder der Horizont. Für das 19. Jh. ist Caspar David Friedrich mit seinem „Mönch am Meer“, seiner bis dahin einmaligen Reduktion der Anlage des Bildes auf wenige landschaftsbestimmende Merkmale, ein herausragendes Beispiel für das neue bildliche Thematisieren einer Wasserlandschaft. Eine Zusammensetzung aus einem schmalen Landstrich und eines großen Bereiches Meer und Himmel wird als Stimmungslandschaft vor den bildinternen und die -externen Betrachter gesetzt. Ein Kontrapunkt in einer Zeit der touristischen Eroberung der Ostsee.
Gerhard Richter hat in seinen Seestücken eine weitere Reduktion vorgenommen, doch selbst in „See-See“ bleibt die Spiegelgerade eine Referenzlinie, die dem Horizont gleicht. Auch Bergemann wählt das heimatliche Meer, doch sie verzichtet auf jegliche Angabe von Orientierungshilfen. Wo befindet sich die Fotografin? Wo befinden wir uns? Diese Ausschnitthaftigkeit ist ein weiteres bestimmendes Element ihrer Arbeiten.

Ihre stark malerisch wirkenden Fotografien zeigen, vielleicht wider Erwarten, eine keineswegs eingeschränkte Farbpalette. Die Reflexionen des Sonnen- und Mondlichtes bieten ihr dahingehend reichhaltige Variationen. Sandra Bergemann ist am Meer auf der Suche nach einer Erinnerung, nach einer Deckung von Motiv und Gefühl in einem Meeresausschnitt, der über die Farbigkeit, die (Wellen-)Struktur, den Grad der Unschärfe präzisiert wird. Dass das Meer Ausgangspunkt dieser Suche ist, ist in den nur minimal digital bearbeiteten Bildern ihrer Serie zunächst nicht unbedingt auf den ersten Blick ersichtlich. Sanft geschwungene Lichtlinien erinnern höchstens noch an die durch ihre eigene Bewegung in eine lineare Form gebrachte Reflexion des Tageslichtes auf den Wellen. Auch die zarte, kontrastarme Farbigkeit dieser Bilder scheint eher an einen japanisch inspirierten mandelblütenreichen Frühling oder kühl-luftig skandinavischen Sonnenaufgang als Hintergrund zu verweisen. Oder sie wirken sphärisch, manchmal wie gefühlvoller Kommentar zu einem klaren, futurisierenden Entwurf im elektronischen Universum. Auf der anderen Seite gibt es da satte, gewichtige, kompakte Farbflächen, für die Bergemann über den Spiegel Meer besondere Tageszeiten einfangen konnte. In kontraststarken Bildern scheinen fröhlich hüpfende Wellen einer Gischt davonzueilen. Vor kompaktem, blaugrauem Grund zeichnen sich in verschiedener Dichte feine helle schwungvolle Linien ab, die Szenerien lassen reichlich Raum für Geschichten. Aber auch die vielleicht für die Ostsee in der kälteren Jahreszeit typische dröge kaltgraue Farbigkeit spielt eine Rolle. Die Bilder zeigen eine eher reliefartige Struktur der Oberfläche des Meeres. Hier wirkt es wie eingefroren und erinnert an die Fotografien Hiroshi Sugimotos, der in seiner Serie „Seascapes“ Meeresausschnitte verschiedenster Regionen zeigt und ihre Ähnlichkeit aufdeckt, die Bewegung des Meeres anhält, das Zeitlose thematisiert. Bergemann begegnet diesem Thema anders. Ihre Bilder verweisen auf ein Schweben zwischen Unendlichkeit und Ausschnitt. In der Betrachtung des Meeres herrscht eine Unsicherheit, ein stetes Hin- und Herschwanken zwischen Fokussierung auf ein Detail und seiner scheinbar unendlichen Vervielfältigung. Bergemann deckt hier eine Ähnlichkeit zu einer Erinnerung auf, die durch ihre starke emotionale Markierung einen speziellen Moment festhält, aber über die Zeit einen universellen Charakter annimmt.
Es herrscht ein stetiges Changieren zwischen Distanz und Nähe.

Das Meer als Motiv ist keine Laune Bergemanns, sondern starker Gegenpart, sie wählt die Distanz zum nassen Element am Ufer. Weniger in die Ferne schweifend als vielmehr direkt vor sich versucht sie genau den Zeitpunkt zu bannen, in dem ihre Erinnerung und ein damit verankertes Gefühl mit dem fotografischen Moment übereinstimmen. Einen Moment zum Beispiel, in dem sich die Abendsonne pinkrot im Wasser spiegelt, dieses Spiegelbild aber von den Wellen auseinandergerissen wird. Den Erwartungen zuwiderlaufend und souverän begegnet Bergemann dem Meer. Eine schwärmerische Begegnung und suchende Annäherung an unser wichtigstes Element. Großformatig zeigt sie die Bilder, überlebensgroß werden die Meeresausschnitte präsentiert. Auch für den Betrachter wird es so möglich, sich einzufühlen oder zumindest sich einzulassen. Die Flächen geben einen Raum frei, der bis zum Eintauchen führen kann. Wir können uns, sinnend wie der „Mönch am Meer“, oder schreckhaft vor dem nassen Gefilde platzieren. Wir können vor den Bildern stehen bleiben oder die Distanz aufgeben.

VON MOMENTEN

Naturereignisse des Inneren

von Nicole Loeser (Galerie WHITECONCEPTS, Berlin), 2013

Wasser ist nicht nur die wichtigste Ressource unseres Planeten, sondern die Substanz, die seit Jahrmillionen Informationen speichert und durch seine Wirbelbewegungen Energetisierungsprozesse anstößt. Es hat in allen Kulturkreisen von jeher eine wichtige Bedeutung und den wissenschaftlichen und kreativen Geist inspiriert.

Sandra Bergemann wendet sich in der Schaffensphase ab 2010 nach ihren bis dahin dokumentarisch angelegten Fotoserien der künstlerischen Fotografie zu. Starke Gefühle, persönliche Erlebnisfähigkeit und individuelle Freiheit stehen im Mittelpunkt dieser anschaulichen Arbeiten. Sie eröffnen uns den Blick auf die innere Welt und offenbaren die Vielschichtigkeit der Realität. In der Serie VON MOMENTEN hält Sandra Bergemann eine Form des Seeleneindrucks fotografisch fest.

Mit der Herangehensweise einer Suchenden spürt sie ihren Gefühlen mittels persönlicher Erlebnisse in der Landschaft nach. Dafür bieten ihr und dem Betrachter Reflexionen auf der Wasseroberfläche Gelegenheit, in sich selbst hinein zu hören und die innere Stimme zur Resonanz zu bringen. Ebenen der Realität lassen sich entdecken, die wir mit unseren Sinnesorganen allein nicht wahrnehmen können. Denn ihre Fotografien verweisen nicht auf einen speziellen Ort, sondern man erkennt neben der äußerlichen Form auch den inneren Wert einer Erscheinung. Die kontemplative Ästhetik der Bilder ist einerseits dokumentarisch, andererseits durch die Reflexionen von Licht zum Teil durch ihre ungewöhnliche Farbigkeit fremdartig und fast abstrakt. Die Stille, die von den Arbeiten ausgeht, ist bewusst gewählt. Durch das fehlende Raumgefühl und das große Format erhält die Fotografie malerische Qualität, die geprägt ist durch einen kompositorischen Charakter. Erst bei genauerer Betrachtung erschließt sich der Detailreichtum der Aufnahme und findet das Auge scheinbar einen Halt.

Bergemanns Bildtitel geben einen Verweis auf den Zeitpunkt der Aufnahme durch die Angabe von Tag und Uhrzeit. Spontan hält sie ihren Gemütszustand fest, doch ist die Erinnerung oder Gegenwart verantwortlich für die gegenwärtige Reflexion? In der Erinnerung können wir Gefühle zuordnen, die uns in der gegenwärtigen Situation oft nicht bewusst sind. Die Künstlerin spricht dabei von einem Moment, der durch die Intensität des Gefühls in Erinnerung bleibt und im Nachhinein ein zum Teil bewusstes oder unbewusstes Monument bildet, das in der Gegenwart bestehen bleibt.

Mit ihrer Serie VON MOMENTEN lotet die Fotografin das Transzendentale der Kunst aus. Wie ein „Sucher des Inneren im Äußeren“ (Kandinsky, „Über das Geistige in der Kunst“, Benteli Verlag, Bern 1952) verwendet sie die Abbildung der Naturerscheinungen zum Zweck ihrer Auseinandersetzung und als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens. Ihre Fotografien sind geistige Impressionen, atmosphärische Momentaufnahmen, die Hintergründiges, zum Teil auch Rätselhaftes hervorbringen. Farbige Interferenzen auf der Oberfläche gleichen Schwingungen von akustischen Klängen und evozieren eine innerlich gehörte Musik.

Wie der japanische Meister Hiroshi Sugimoto wirft Sandra Bergemann mit ihren konzentrierten Arbeiten uralte Seins-Fragen auf. In der Vertiefung mit dem Element Wasser, aus dem unser Organismus hauptsächlich besteht und das unser kollektives Gedächtnis beeinflusst, spiegelt sie Gefühle und Empfindungen als innere Naturereignisse und gibt metaphysischen Bedürfnissen einen einzigartigen Raum.

Filmgeschichte in authentischer Inszenierung

von Peer Golo Willi (Kunstwissenschaftler, Berlin), 2012

Es geht um mehr als um Portraits von Prominenten. In ihrer Fotografieserie Gesichter der DEFA verbindet die Künstlerin Sandra Bergemann verschiedene Aspekte der Erinnerung und stellt Bezüge her, die weit über das Historische hinausreichen.
Die Biographien der vierzig Schauspieler, die Bergemann für ihre Serie von Schwarz-weiß-Fotografien portraitiert hat, sind durch ihre Arbeit für die DEFA aber auch durch ge-samtdeutsche Erfahrungen geprägt. Nach ihrer Gründung mit durchaus ideologischem An-spruch produzierte die DDR-Filmgesellschaft in den folgenden Jahrzehnten auch Filme, die zu Klassikern wurden und auch in Westdeutschland Beachtung fanden, so zum Beispiel Die Legende von Paul und Paula (1973). Bergemann zeigt zum einen Schauspieler, die in jünge-ren Fernsehserien mitspielen (z.B. Jaecki Schwarz) oder in großen Mehrteilern und Holly-wood-Produktionen (Armin Müller-Stahl). Aber auch Schauspieler, die nach ihren DEFA-Engagements vornehmlich auf der Theaterbühne gewirkt haben (z.B. Carmen-Maja Antoni), gleichberechtigt Teil dieser Serie.
Was Bergemanns Portraitserie von dem in verschiedenen Medien reichlich vorhande-nem Bildmaterial unterscheidet, ist insbesondere die Authentizität der Darstellungen. Es zeigt sich, dass es der Anspruch der Künstlerin ist, über die Funktion der Dokumentation und Identifizierbarkeit hinaus auch die Persönlichkeit, d.h. das Wesen sichtbar zu machen.
Zunächst hat Bergemann die Schauspieler in Nahaufnahmen, als Brustbild oder als Dreiviertelportrait abgelichtet. Dabei sind durch das reduktive Schwarzweiß Blick und Mimik kontrastreich herausgearbeitet. Von jedem Schauspieler hat sie noch ein zweites Bild ange-fertigt, jeweils an einem für ihn bedeutsamen Ort, an dem sie mit ihren Modellen die Hand-lungen und Posen erarbeitet hat. Diese Inszenierungsmittel sind Teil jeder Aufnahme und erzählen so von den Begegnungen mit den Schauspielern, lassen gleichzeitig aber vieles im besten Sinne unerzählt. Der Künstlerin gelingen dadurch Bilder, die ungleich persönlicher sind und sich dem Ideal der Darstellung des Wesentlichen nähern.
Bergemanns Konzept des persönlichen Bezuges und vor allem der persönlichen Ein-beziehung der Schauspieler evoziert jene Authentizität durch die Überwindung der (mit jeder Prominenz einhergehenden) Distanz. Durch das Einfangen der Portraitierten in ihrem Alltag wird ein Gegenwartsbezug hergestellt und eine Nähe, die unabdingbar sein will bei der Suche nach einer Wahrheit und der, wie Sherin Najjar schreibt, „Suche nach Spuren einer ver-lorenen Zeit“ . Der Grad der Prominenz einzelner Schauspieler wird mithin nachrangig.
Die Ergebnisse einer Recherche, die Teil des Projektes sind, finden sich sowohl in einer von der Künstlerin konzipierte Wanderausstellung als auch im von ihr konzipierten Katalog wieder. Bergemann hat biographische Quellen gesammelt, in Zusammenarbeit mit dem Potsdamer Filmmuseum und der DEFA-Stiftung ausgewertet und überdies selbst Interviews geführt. In der Ausstellung werden, zusammen mit den Fotografien, Statements der Schau-spieler auf kleinen Texttafeln präsentiert, die sich thematisch von deren beruflichen Anfängen und den Erfahrungen der Tage des Mauerfalls bis heute erstrecken.
Mit so genannter „Ostalgie“ hat all dies nichts zu tun. Auch ist die Portraitserie mehr als ein Wer-ist-wer der ostdeutschen Filmgeschichte. Für die 1980 im vorpommerschen Stral-sund geborene Sandra Bergemann geht es vielmehr um Heimat und um ihre eigenen Kind-heitserinnerungen, – um ganz persönliche Erinnerungen also, die sie mit einer kollektiven Erinnerung in Dialog bringt, die durch unterschiedliche Wahrnehmungen in Ost und West sehr heterogen ist. Dabei umfasst der persönliche Aspekt sowohl die eigene, autobiographische Sichtweise als auch die der Schauspieler und fordert gleichzeitig den Standpunkt des Betrachters ein. Der historische Aspekt der Bilder indes verliert sich nicht in einem diffusen Allgemeingültigkeitsanspruch. Weil beides für sich bestehen bleibt und nachspürbar ist, findet hier eine Retrospektion statt, ohne den Versuch einer vermeintlich repräsentativen Re-konstruktion.
Sandra Bergemann hat bei ihren Inszenierungen sehr zurückhaltend Regie geführt und den Äußerungen der portraitierten Schauspielern eine wichtige Funktion innerhalb des Pro-jektes eingeräumt. Die Umsetzung dieses künstlerischen Ansatzes konfrontiert die Rezeption auf diese Weise mit jener Authentizität, die mehr wiegt als die Bekanntheit einzelner Gesichter und durch die das gesamte Kunstprojekt weit mehr ist als ein rein enzyklopädischer Abriss ostdeutscher Filmgeschichte.

Gesichter der DEFA/Faces of DEFA

von Reinhild Steingröver (Filmwissenschaftlerin, Rochester, USA), 2008

Knapp zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR und der Abwicklung des ostdeutschen Filmstudios erscheint der Bildband Gesichter der DEFA. Wer kennt die alten Filme noch, wer entsinnt sich der Namen der Schauspieler/ innen, die ihnen ihr “Gesicht” liehen? Warum sollte man sich heute daran erinnern?
Für Betrachter aus der ehemaligen DDR werden diese Portraits sicherlich manche persönliche Erinnerungen an eine Jugendliebe, an einen Streit mit dem Staatsbürgerkundelehrer, an Musik, an das Lebensgefühl, schlicht den Alltag in Ostdeutschland, wie er in den DEFA Filmen reflektiert wurde, wecken. DEFA-kundige Kinoliebhaber denken vielleicht an die sogenannten Trümmerfilme des Anfangs, die frechen Aufbau- und Beziehungsfilme der 60ger Jahre (oft erst viel später freigegeben), die Gegenwartsfilme der 70ger und 80ger Jahre, aber auch Musicals, Indianer- und Science-Fictionfilme.
Die hier porträtierten Künstler und Künstlerinnen sind aber nicht nur “Gesichter der DEFA,” denn dann hätte Sandra Bergemann es bei einer Auswahl von DEFA-Filmfotos belassen können. Stattdessen zeigen die Portraits Gesichter, die auch Betrachter aus der ehemaligen Bundesrepublik aus Filmen vor und nach dem Mauerfall, aus Fernsehserien und dem Theater kennen. Es sind also Schauspieler, des gesamtdeutschen und internationalen Films: Armin Müller-Stahl beispielsweise arbeitete sowohl mit Jim Jarmusch, Egon Günther als auch mit Rainer Werner Fassbinder; Corinna Harfouch spielte u.a. in einem der letzten DEFA Filme, Die Spur des Bernsteinzimmers (1992) von Roland Gräf und in dem „Wendefilm“ Das Versprechen (1995) der westdeutschen Regisseurin Margarethe von Trotta, während Michael Gwisdek, der mit allen namhaften DEFA Regisseuren seiner Generation gearbeitet hatte ebenfalls unvergessliche Rollen im Film und Fernsehen der letzten zwanzig Jahre spielte – man denke nur an seinen Direktor Klapprath in Good Bye Lenin! (2003). Dieser Band ist also eine Aufforderung, die noch immer bestehende Mauer im Kopf auch in Bezug auf deutsche Filmgeschichte endlich abzutragen.
Dazu gehört allerdings zunächst für viele Betrachter die (Neu)entdeckung des DEFA Films. Noch vor fünfzehn Jahren, als das Potsdamer Filmmuseum den Fotoband ; Vor der Kamera; Fünfzig Schaupieler in Babelsberg (1995) mit Szenenfotos veröffentlichte, fiel auf, dass viele der begleitenden Würdigungstexte von namhaften Regisseuren, die Größe der DEFA “Stars” durch Vergleiche in der internationalen Arena zu fassen suchten: Eva-Maria Hagen wurde die “Marilyn des Ostens,” Jutta Hoffmann “die junge Frau Fellinis- Guilietta Masina” während Manfred Krug die Ausstrahlung eines Robert Redford attestiert wurde. Tatsächlich hat der DEFA Film im Laufe der letzten zwanzig Jahre begonnen, sein verdientes internationales Publikum zu finden, welches die anhaltende Wirkung der künstlerischen Errungenschaften der in diesem Fotoband versammelten Künstler würdigt. Dies bestätigten ausverkaufte Vorstellungen in der DEFA-Retrospektive im Museum of Modern Art, New York 2005, geplante Filmserien in Los Angeles 2009 und engagierte Diskussionen mit Studenten in DEFA Seminaren an vielen amerikanischen Hochschulen. Ein internationales Publikum, bestehend aus verschiedensten Altersgruppen findet heute Zugang zu den grossen Filmen des ostdeutschen Studios.
Auch wenn eine zwanzigjährige Amerikanerin kaum etwas über die historischen Umstände der DDR in den 70ger Jahren weiss, versteht sie doch Angelica Domröses “Paula” in ihrer zeitlosen Sehnsucht nach Liebe und Abenteuer. Gleiches gilt für die Filme früherer und späterer Jahrzehnte, seien sie Komödien, Künstlerbiographien, Problem- oder Abenteuerfilme. Natürlich erhält beispielsweise die Begegnung mit Uwe Kockisch und Michael Gwisdek in Ulrich Weiß’ Unbekannter Bruder (1982) eine vielschichtigere Bedeutung, wenn man sich der Tradition der antifaschichstischen Widerstandsfilme der früheren DEFA Jahre, oder auch der überaus schwierigen Rezeption und Zensur dieses Filmes in der DDR bewusst ist. Doch auch vollkommen “unbelastet” von jeglicher Kenntnis der DEFA und DDR (Film)geschichte versteht der zeitgenössische Zuschauer die paranoide Angst, Schuld und Verzweifelung der Filmhelden und setzt diese Art des Sehens in Beziehung mit seiner jeweiligen Lebensrealität.
Der DEFA Filmgeschichte anhand der hier versammelten Portraits auf die Spur zu kommen bedeutet auch, einem Kapitel engagierter Kunst zu begegnen, in dem Film zumindest dem ursprünglichen Anspruch zufolge als gesellschaftlich-relevantes Medium verstanden wird. Dem Gründungsgedanken “Der Film muss heute Antwort geben auf alle Lebensfragen unseres Volkes.” von 1946 steht die Übersetzung des DEFA Namens “Diene Ehrlich Friedlichem Aufbau” von 1947 gegenüber. Dass das Studio diesem Motto längst nicht immer gerecht wurde, wird heute nicht mehr verschwiegen. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem utopischen Anliegen, dass Filme eine positive gesellschaftliche Funktion wahrnehmen können, entstanden in 46 Jahren über 700 Kinofilme, von denen die Besten das obige Motto beherzigten – und deshalb oft prompt auf Eis gelegt wurden, statt in die Kinos zu kommen.
Dies geschah 1965, nach dem 11.Plenum des Zentralkomitees der SED, in dessen Folge die “Kaninchenfilme”, so benannt nach Kurt Maetzigs Film Das Kaninchen bin ich, also die gesamte Jahresproduktion an Spielfilmen für die nächsten zwei Jahrzehnte im Archiv lagerten. Alfred Müller und Angelika Waller, deren Portraits in diesem Band enthalten ist, spielte in diesem entscheidenden Film die männliche Hauptrolle. Erst nach dem Fall der Mauer wurden die Verbotsfilme 1989/ 90 öffentlich vorgeführt. Kurt Maetzig erinnerte sich später an den Zusammenstoss von persönlichem Idealismus und bürokratischem Dogmatismus im Studio: “Der Film Das Kaninchen bin ich verkörperte in klarer Weise die Ideale, mit denen ich beim ‘Augenzeugen’ [d.h. die DEFA Wochenschau, Anm d.A.] angefangen hatte: “Urteilen Sie selbst!’ Es war ein Film für einen demokratischen Sozialismus, und ich bin damals damit gescheitert, bin schrecklich damit gescheitert.” Ähnliches galt für Frank Vogels im gleichen Zug verbotenen Denk bloss nicht ich heule, mit den ebenfalls hier abgebildeten Peter Reusse, Helga Göring, und Jutta Hoffmann, der sich des tabuisierten Generationskonflikts in der DDR annahm.
Wenn also die Partei und Studioleitung selbst regelmässig aus Ängstlichkeit und Unverständnis die Gründungsutopie der DEFA ignorierte, so gab es doch in jeder Regie- und Schauspielergeneration einige mutige Künstler, die sich deren entsannen und sie Ernst nahmen. Für sie bedeutete dies tragische, persönliche und berufliche Konsequenzen zu erdulden, die teils irreparabel schädigend blieben: Entlassungen, erzwungene Untätigkeit, Übersiedlung in den Westen, gesundheitliche Überlastungen, selbst Haft. Solche Schicksale lassen sich nicht wieder gutmachen – aber sie schufen Filme, die bleiben.
Filme, die sich vom Ersten – Die Mörder sind unter uns (1946) bis zu den Letzten, u.a. Stein (1990) und Land hinter dem Regenbogen (1991) immer wieder mit Fragen der Verantwortlichkeit gegenüber der deutschen Geschichte, und des Individuums in der Gesellschaft auseinandersetzen. Auch hier gilt, dass diese Filme einerseits historisch Spezifisches angehen, andererseits aber einem breiten Publikum elementaren Grundproblemen des Lebens Zugang verschaffen, bzw. es schlichtweg unterhalten. Wer behauptet, dass die just genannten Titel nur von einem DDR kundigen Publikum rezipiert werden können, der wird auch meinen, Thomas Bernhard könne nur in Wien, und Woody Allen nur in New York verstanden werden.
Wenn die Augen, einem altbekannten geflügelten Wort gemäß, das Fenster zur Seele sind, dann lädt dieser Fotoband dazu ein, als Portal zu einem für viele noch unentdeckten aber sehr lebendigen Kapitel Filmgeschichte zu fungieren. Es gibt viel Gehaltvolles, Spannendes, und Witziges zu entdecken: Winnetou Fans, seien beispielsweise die „Indianerfilme“ mit Gojko Mitic, Travoltabegeisterten hingegen der Kulthit Heisser Sommer (1968) empfohlen. Fassbinder Verehrer, sollten sich für Michael Gwisdeks Darstellung des kriegsgeschädigten Boxers um 1945 in Ulrich Weiss’ Olle Henry (1983) interessieren, während Anhänger des italienischen Neorealismus ästhetische Anklänge in Gerhard Kleins Berlin –Ecke Schönhauser (1957) finden werden.
Sandra Bergemanns Schauspielerportraits sind ein höchst willkommener und zeitgemäßer Anlass, diesen und vielen anderen Filmschätzen auf die Spur zu kommen.

Sandra Bergemann. Gesichter der DEFA
Chronistin einer verlorenen Zeit

Dr. Sherin Najjar (Kunstwissenschaftlerin, Berlin), 2008

Wie war das damals? Das ist die Frage, die sich Sandra Bergemann selbst und ihren Protagonisten immer wieder stellt. Für diese Frage fertigt die Berliner Fotografin in ihrem Porträtzyklus Gesichter der Defa klassische schwarz-weiß Bildnisse, in denen die Schauspieler des ehemaligen DDR Filmstudios agieren. Wie war das damals – gerade angesichts von Porträts eine paradoxe Frage, werden sie doch gerade zu dem Zweck gemacht, sich später erinnern zu können, wie es damals gewesen ist. Anders in Bergemanns Porträts, die retrospektiv funktionieren. Hier hält das fotografische Abbild nicht nur – im Sinne Roland Barthes – einen Augenblick fest der in der Vergangenheit liegt , vielmehr versucht Bergemann aus heutiger Sicht die persönlichen Lebensgeschichten der Defa-Stars aufzuspüren und nachzuvollziehen. Ihre künstlerische Praxis wird dabei zum Fixierbad.
Bei der Porträtserie Gesichter der Defa handelt es sich nicht nur um Aufnahmen, die den Blick einer jungen Frau wiedergeben, die in der DDR einen Teil ihrer Kindheit verbrachte, sondern die zugleich das Verhältnis der Fotografin zum Medium Fotografie widerspiegeln. Bergemann dient die Kamera weniger zur Disziplinierung und Arretierung von Zeitgeschehen, sondern vielmehr der Suche nach Spuren einer verlorenen Zeit. Die Fährten führen die Fotografin nicht in ihr Studio, sondern an private Orte und in intime Situationen. Dort fotografiert Bergemann in Nahaufnahme zuerst nur die Gesichter der ehemaligen Defa-Stars. Dann bittet sie ihre Modelle an ausgewählte Orte und lichtet die Schauspieler ein zweites Mal ab. Meist wird in dieser Gesamtsituation etwas von dem Umraum der Porträtierten freigelegt. Den Orten, wo heute – fast zwanzig Jahre nach Mauerfall – geprobt, gespielt und gelebt wird. Das verborgene der vergangenen Zeit bleibt in der Serie erhalten, doch gleichzeitig evoziert die Präzision der Darstellung einen schonungslosen Blick auf die physiognomischen Spuren des Lebens. Die gealterten Gesichtzüge machen deutlich: Die gesuchte Zeit ist lange vergangen und einzig in den Erinnerungen der Protagonisten bewahrt. Die den Bildern beigestellten Texte sprechen von dieser Vergangenheit und verknüpfen das Heute mit dem Gestern. Durch die Einbindung der Porträts in eine emblematische Struktur (der Dreiteilung in Porträt, Komentarbild und begleitenden Text) gewinnen sie eine Gültigkeit über die in den Zitaten markierten historischen Zeitpunkt hinaus; durch das Lesen der Texte ist eine Übertragung auf die Gegenwart des Betrachters möglich.
Die einfachen, stark formalisierten Vorgaben in Bergemanns „Konzept-Bildern“ sind tief in der fotografischen Tradition verankert. Die Ablichtung im Dreiviertelporträt und die Nutzung von schwarz-weiß Filmmaterial folgt den Vorgaben klassischer Porträtfotografie und markiert das fotografische Bild als eine Abbreviatur von Wirklichkeit. Im Gegensatz zu den stilprägenden Fotografieserien Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander oder Stefan Moses Deutsche. Porträts der sechziger Jahre folgt Bergemanns künstlerisches Prinzip jedoch nicht einer „fotografischen Berufstypologie“, im Sinne von „Portraitaufnahmen bestimmter gesellschaftlicher Typen.“ Vielmehr legt Bergemann in ihren Schauspielerporträts mittels ihrer identitätskonturierenden Aufnahmetechnik dem Betrachter die intendierte Sichtweise ihrer Werke nahe. Diese besteht darin „den Dargestellten in seiner Geschichte zu betrachten (…);.“ Die begleitenden Zitate, geben zusätzlich „Stoff“ für die Interpretation an die Hand und sind wiederum nur ein Ausschnitt. Bergemann hat dem Betrachter eine weitere Spur gelegt. Damit ist der Rezipient aufgefordert sich aktiv an dem Bildgeschehen zu beteiligen und die Rekonstruktion der Geschichte selbst zu vollziehen.
Bergemanns Werkserie Gesichter der Defa fungieren aber nicht nur als reine Form der Erinnerungsarbeit, sondern ebenfalls als eine Vergegenwärtigung der sozialen und politischen Veränderungen, in denen sich die Fotografin selbst wieder findet. Dass sie die Serie im Sanderschen Sinne als Sequenz konzipiert, ist von übergeordneter Bedeutung. So gelingt es Bergemann Bruchstücke der eigenen Biografie und der politischen Sozialisation in einem Bedeutung evozierenden Spiel zu einem Netz geschichtlicher Beziehungen und Interaktionen zu verdichten.
Bergemann ist die Chronistin einer verlorenen Zeit. Mit der Porträtserie Gesichter der Defa breitet sie vor uns ein ästhetisch gespeichertes Wissen aus. Obwohl ihr fotografischer Blick persönlich ist, bleiben ihre Porträts repräsentativ. Sie sind ein fotografisches Angebot, ein fast vergessenes Kapitel ostdeutscher Geschichte aufzuschlagen.